Persönliche Erklärung von Konstantin v. Notz zur namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2011 (2011) vom 12. Oktober 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Bundestags-Drucksache 17/8166)

Erneut hat der Deutsche Bundestag in diesen Tagen über das Mandat zur Entsendung von deutschen Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan abgestimmt. Die nach wie vor als äußerst komplex zu beschreibende Situation in Afghanistan und die daraus resultierende Probleme bei der Einschätzung der aktuellen und perspektivischen (Sicherheits-)Lage geben weiterhin Anlass zu vielen Fragen und machen die Entscheidung, wie man sich bei den Abstimmungen vernünftig verhalten sollen, enorm schwierig.

Als Grüne haben wir uns die Entscheidung über unser Abstimmungsverhalten auch im Vorfeld der jetzigen Abstimmung alles andere als leicht gemacht. So haben wir auch diesmal zahlreiche Expertinnen und Experten um eine Einschätzung der Lage gebeten und erneut intensiv in der Fraktion diskutiert. Mein Abstimmungsverhalten ist auch das Resultat der Einschätzungen dieser Expertinnen und Experten und unserer fraktionsinternen Diskussionen.

Der Erklärung über mein Abstimmungsverhalten schicke ich voraus, dass unser Dank und unsere Wertschätzung denjenigen gelten, die als als zivile Helferinnen und Helfer vor Ort oder als Soldatinnen und Soldaten verschiedenste, gefährliche und sehr anspruchsvolle Aufgaben erfüllen. Auch angesichts der Verantwortung gegenüber diesen Menschen habe ich intensiv um die richtige Entscheidung bei dieser Abstimmung gerungen.

In der Abwägung aller Argumente bin ich, wie die Mehrheit meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen, erneut zu einer Enthaltung gegenüber der Abstimmungsgrundlage gekommen. Meine Enthaltung ist nicht als Wegducken vor einer Entscheidung misszuverstehen. Sie ist vielmehr Ausdruck, dass ich – auch in der Opposition – versuche, der Komplexität der Entscheidung Rechnung zu tragen, ohne die Entscheidungsgrundlage tatsächlich beeinflussen zu können.

Die Nichtzustimmung zum Mandat, die mit meiner Enthaltung zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der Forderung nach einem Sofortabzug gleichzusetzen. Ein solcher Sofortabzug wäre aus heutiger Sicht weder umsetzbar noch verantwortlich. Die Folge wäre eine weitere Destabilisierung der ohnehin fragilen Lage in Afghanistan und eine weitere Verschlimmerung der Lebensumstände für die afghanische Bevölkerung. Auch viele der Menschen in Afghanistan, die in den letzten Jahren begonnen haben sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, wären durch einen solchen Sofortabzug massiv bedroht.

Meine Entscheidung, mich bei der jetzigen Abstimmung gegenüber der Entscheidungsgrundlage enthalten zu haben, möchte ich im Folgenden aber noch genauer begründen.

Die Diskussionen um das jetzige Mandat werden teilweise unter anderen Vorzeichen geführt als sie bislang. Denn erstmals soll das deutsche militärische Engagement – wenn auch nur in geringem Maße – zurückgeführt werden. Darüber hinaus stehen die Zeichen auch weiterhin auf einen Abzug der internationalen Truppen bis zum Jahr 2014. Bis dahin, so das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft, sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um einen geordneten Übergabeprozess zu ermöglichen und das Land in die Unabhängigkeit zu entlassen.

Das nun beschlossene Mandat wird ab dem 31. Januar 2011 für ein Jahr gelten. Ich konnte dem Mandat nicht zustimmen, weil die Hauptforderung von uns Grünen, nämlich den zivilen Aufbau in den Mittelpunkt des Mandates zu rücken, auch diesmal nicht ausreichend berücksichtigt wurde. So hinken die Bemühungen um einen zivilen Aufbau auch weiterhin dem militärischen Engagement weit hinterher. Weiterhin folgt das Mandat nicht dem wichtigen und richtigen Primat „Zivil vor Militär“. Die (gescheiterte) Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung und der gezielten Tötungen wird fortgesetzt. Das halten wir Grünen für falsch und haben dies auch durch unseren eigenen Entschließungsantrag, dem ich zugestimmt habe, deutlich zum Ausdruck gebracht.

Das Verfolgen derartiger Strategien trägt zur weiteren Gewalteskalation bei und ist in höchstem Maße kontraproduktiv für die Erreichung des Ziels einer weiteren Stabilisierung des Landes. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist auch weiterhin besorgniserregend. Daher überzeugt uns die Bewertung der Bundesregierung im aktuellen Fortschrittsbericht nicht. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich laut der Beobachtermission der Vereinten Nationen in Afghanistan 2011 im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um fast 15 Prozent erhöht. Auch deshalb schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in die ISAF-Truppen. Hier bedarf es dringend eines Strategiewechsels, den wir seit langem fordern. Denn noch immer wird die Dominanz des Militärischen begleitet vom weitgehenden Fehlen einer am tatsächlichen Bedarf orientierten zivilen und entwicklungspolitischen Aufbaustrategie, die in Abstimmung mit den afghanischen und internationalen Partnerinnen und Partnern ausgearbeitet werden muss.

Gerade vor dem Hintergrund der nach wie vor desolaten Lage des Landes steht für mich derzeit nicht zur Debatte, eine Verlängerung des Mandates abzulehnen. Dies hielte ich für in der jetzigen Situation, in der das afghanische Volk einen Rückfall in alte Machtstrukturen und eine Herrschaft der Taliban befürchten muss, nach wie vor für unverantwortlich. Eine solch rasche Übergabe würde die noch immer nicht in ausreichendem Maße gefestigten staatlichen Strukturen Afghanistans überfordern.

Mit meiner Enthaltung gegenüber der Entscheidungsgrundlage will ich auch zum Ausdruck bringen, dass wir, nachdem die internationale Staatengemeinschaft auf der jüngsten Afghanistan-Konferenz im November beschlossen hat, dass die internationalen Truppen bis Ende 2014 abgezogen werden sollen, in der bis dahin verbleibenden, knapp bemessenen Zeit alles daran setzen müssen, das Land auf eine Übergabe vorzubereiten. Hierfür müssen die richtigen Weichenstellungen jetzt gestellt und die verbleibende Zeit möglichst effektiv genutzt werden. Es gilt, vor allem die zivile Komponente des weiteren Aufbaus des Landes massiv zu stärken.

Jetzt ist die Zeit, eine fundierte Diskussion der erfolgversprechendsten Maßnahmen unerlässlich und dringend geboten – genauso wie die Bereitschaft der Bundesregierung, sich dem öffentlichen Diskurs über die Situation in Afghanistan endlich zu stellen. Eine solch ehrliche Auseinandersetzung vermissen wir Grüne noch immer. So wichtig die Ausrichtung und die konstruktive Begleitung der internationalen Konferenzen zu Afghanistan ist, so gilt: Wenn diese Debatten nicht in die deutsche Öffentlichkeit getragen werden, wird der Abkehr an Interesse und Bereitschaft, sich für Afghanistan und seine Bewohnerinnen und Bewohner einzusetzen, weiter Vorschub geleistet.

Schließlich ist mir wichtig klarzustellen: Es ist mir wohl bewusst, dass es auch für anderes Abstimmungsverhalten gute Argumente gibt und ich keinesfalls behaupten möchte, meines wäre moralisch legitimer als das anderer. Es handelt sich bei dieser Frage um eine Gewissensentscheidung, die ich für mich, so gut es ging, zu beantworten gesucht habe.

Ich hoffe, Ihnen und Euch die Argumente, die mich dazu veranlasst haben, mich bei der jetzigen Abstimmung zu enthalten, verdeutlichen haben zu können und bin gerne bereit, meine Beweggründe auch in persönlichen Gesprächen noch einmal vertiefend darzulegen.

Herzliche Grüße

Ihr/Euer
Konstantin v. Notz