Statt sich endlich den Herausforderungen zu stellen, verschläft die Große Koalition die digitale Revolution. Ob Breitbandausbau, Datenschutz und IT­-Sicherheit, das Urheberrecht oder die Netzneutralität –  es mangelt nicht an offensichtlichen, netzpolitischen Großbaustellen. Passiert ist viel zu wenig. Ihre „Digitale Agenda“ steht exemplarisch für die Hasenfüßigkeit einer Großen Koalition, die weiter mit allem Digitalen fremdelt. Eine Halbzeitbilanz.

Den Gastbeitrag für hbpa – The House of Public Affairs können Sie hier auch im Original lesen:

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Wir brauchen einen neuen digitalen Gesellschaftsvertrag

Den Wandel gestalten

Eine Große Koalition hätte zweifellos die Chance, durchaus kostenintensive und unpopuläre Weichenstellungen, die für die Zukunft unserer durchdigitalisierten Gesellschaft essenziell sind, anzugehen. Diese Chance lässt man liegen. Die GroKo schaut tatenlos zu, wie der digitale Wandel unserer Gesellschaft von anderen gestaltet wird: von Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden, die Orwells „1984“ als Bedienungsanleitung verstehen und das Netz nutzen, um alte Überwachungsfantasien Realität werden zu lassen. Oder von milliardenschweren Unternehmen, die uns zweifellos verlockende digitale Angebote bieten, sich aber achselzuckend und mit Hinweis auf die eigene Multinationalität an deutsches Recht und Gesetz nicht gebunden fühlen.

Seit Jahren verpasst es die Bundesregierung, den digitalen Wandel selbst aktiv zu gestalten. Man veranstaltet medienwirksame IT­-Gipfel – Potemkinsche Dörfer, Fassaden, die in sich zusammenfallen, sobald man hinter die Kulisse blickt. Man schmeißt mit Buzzwords um sich: Industrie 4.0, Big Data, die Cloud. Mitspielen will die GroKo überall. Die Hände schmutzig machen, politische Prioritäten bestimmen, auch mal in Konflikte mit Lobbygruppen gehen und netzpolitische Zuständigkeiten bündeln – all das will man jedoch nicht.

Vorprogrammierter Stillstand

Wie sichern wir unsere Grundrechte angesichts der Enthüllungen Snowdens? Wie schaffen wir ein faires Urheberrecht, das sowohl die Verbreitung von Wissen ermöglicht als auch Kreativen eine angemessene Vergütung sichert? Wie verhindern wir ein „Zwei­-Klassen-­Internet“, in dem die Daten desjenigen schneller transportiert werden, der mehr zahlen kann? Wie retten wir die Zukunft des Journalismus? Wie begegnen wir dem neuen Plattformkapitalismus? Welche multinationalen Übereinkünfte brauchen wir angesichts der Grenzenlosigkeit des Netzes? All das sind drängende Fragen, die die Bundesregierung viel zu lange hat liegen gelassen. Sie taumelt weiter orientierungslos durch „Neuland“. Während die GroKo schläft, haben andere ihre Hausaufgaben gemacht.

Seit Jahren diskutieren wir digitalpolitische Fragen im Deutschen Bundestag. Am Anfang der letzten Wahlperiode, also Ende 2009, etablierten die Fraktionen erste eigene Sprecherposten. Sie besetzten das neue Politikfeld. Sie regelten Zuständigkeiten neu. Sie erkannten die Bedeutung der Themen und  setzten entsprechend politische Prioritäten. Sie arbeiteten hart in der Enquete-­Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Sie legten nicht nur eine umfassende, rund 2000 Seiten lange Bestandsaufnahme vor, sondern verabschiedeten – übrigens oftmals interfraktionell! – mehrere Hundert politische Handlungsempfehlungen. Diese gemeinsamen Vorschläge des Parlaments, die man morgen politisch umsetzen könnte, griff die Bundesregierung jedoch nie auf. Das ist angesichts der geleisteten Kärrnerarbeit nicht nur bitter und frustrierend, die Folge ist anhaltender Stillstand.

Kompetenzwirrwarr statt Führungsanspruch

Statt, wie es die Handlungsempfehlungen vorschlagen, eine dringend benötigte Kompetenzbündelung vorzunehmen, kocht innerhalb der Bundesregierung jeder weiter ambitionslos sein eigenes netzpolitisches Süppchen. Statt Kompetenzen zu bündeln, chaotisierte man diese zusätzlich – Sigmar Gabriel ­ (digitale Wirtschaft), Alexander Dobrindt (digitale Infrastruktur), Heiko Maas (digitaler Verbraucherschutz), Thomas de Maizière (Datenschutz und IT­-Sicherheit), diverse Staatssekretäre, die IT-­Beauftragte, der „Digital Champion“ Gesche Joost, der Beauftragte für Netzökonomie, Lobbyist Dieter Gorny. Wer ist wofür zuständig? Alle für alles? Keiner für irgendwas? Niemand weiß es! Dem neu eingerichteten Bundestagsausschuss wurde – gewaltenteilungstechnisch höchst fragwürdig – gleich derselbe Name wie dem entsprechenden Kapitel des Koalitionsvertrags verpasst. Er hat bis heute keinerlei thematische Federführung und verschwindet gerade vollends in der politischen Bedeutungslosigkeit.

Digitale Agenda – 404 not found

Das ganze großkoalitionäre Chaos brach sich mit Vorlage der „Digitalen Agenda“ endgültig Bahn: Als großer Wurf angekündigt, spricht die Bundesregierung mittlerweile selbst nur noch von einem „Hausaufgabenheft“. Welch Euphemismus! Eine vage Absichtsbekundung reiht sich an die andere. Worthülsen, wohin man nur schaut. Vieles höchst widersprüchlich. Eigentlich nichts finanziert. Ein weiteres Potemkinsches Dorf. Nur ein Bruchteil der selbstgewählten Projekte wurde überhaupt angegangen. So fällt die Einjahresbilanz vernichtend aus.

Nicht mal netzpolitische Kleinstbaustellen wie die Störerhaftung werden behoben. Statt Vertrauen in unsere digitalen Infrastrukturen herzustellen, sinniert man über das flächendeckende Verbauen von Sicherheitslücken, von der Vorratsdatenspeicherung ganz zu schweigen. Die Netzneutralität als Garanten für ein offenes und freies Netz begräbt man über den Umweg Europa endgültig. Die seit Jahren versprochene Reform des Urheberechts? Unbearbeitet! Facebook schreibt man offene Briefe, statt endlich gesetzliche Regelungen vorzulegen. Wäre es nicht so traurig, könnte man fast darüber lachen, dass selbst der deutsche EU-Digitalkommissar Oettinger die Bundesregierung mittlerweile in drastischen Worten davor warnt, den digitalen Anschluss endgültig zu verpassen.

Angesichts der drängenden Aufgaben, vor die uns die digitale Revolution als Gesellschaft und Gesetzgeber stellt, wären eine anpackende Bundesregierung und eine Bündelung aller Kräfte im Parlament dringend nötig. Die Herausforderung ist gewaltig und verlangt nach mehr als bloßer Rhetorik: Wir brauchen nicht weniger als einen neuen digitalen Gesellschaftsvertrag!

Dr. Konstantin von Notz schrieb den Beitrag für hbpa.