130. Sitzung, 15.10.2015, TOP 5: Flüchtlingskrise bewältigen

Konstantins Rede zum Asylkompromiss und der Situation der nach Deutschland geflüchteten Menschen könnt Ihr Euch hier anschauen: http://www.bundestag.de/mediathek/?isLinkCallPlenar=1&action=search&contentArea=details&ids=5974458&instance=m187&categorie=Plenarsitzung&destination=search&mask=search

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Derzeit erreichen Deutschland mehr Flüchtlinge als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie kommen zweifellos aus sehr unterschiedlichen Gründen, aber die überwältigende Mehrheit von ihnen kommt nach dramatischer Flucht und in größter Not. In dieser Zeit gibt es in Deutschland Zehntausende von Menschen, die nicht lange fragen, was dieses Land, sondern was sie selbst für Flüchtlinge tun können. Hauptamtliche und Ehrenamtliche, Junge und Alte, sie alle leisten vorbildliche und großartige Arbeit, oftmals bis an den Rand der Erschöpfung. Diesen Menschen gebührt zunächst einmal unser aller Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Jetzt erwartet man zu Recht Antworten von uns, aus dem Deutschen Bundestag. Wir sehen in dem heute vorliegenden Paket zwar durchaus gute Instrumente, aber leider auch zahlreiche schlechte, verfassungsrechtlich problematische und vielfach einfach untaugliche.

Wir sagen Ja zu einer strukturellen und dauerhaften finanziellen Entlastung der Länder und Kommunen. Wir sagen Ja zu überfälligen Verbesserungen im Asylrecht, dazu, 16- und 17-Jährige endlich nicht einfach wie Erwachsene zu behandeln. Wir sagen Ja zu einem einfacheren Planungsrecht, das hoffentlich möglichst viele Flüchtlinge vor dem kommenden Winter aus den Zelten holt.

Aber wir sagen Nein zu dem nutzlosen und verfassungsrechtlich problematischen Konstrukt der sicheren Herkunftsstaaten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir sagen Nein dazu, Asylsuchende länger in Erstaufnahmeeinrichtungen festzusetzen; das ist unpraktikabel, und es verhindert die Integration, die wir doch gerade wollen. Wir sagen Nein zu immer weiteren Anspruchs­einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz; da verweise ich auf die klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Herr de Maizière, gerade haben Sie von der Achtung gegenüber dem Grundgesetz gesprochen. Das gilt auch für Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir lehnen eine immense Bürokratisierung durch Sachleistungen ab, die Flüchtlingen und den Helferinnen und Helfern das Leben zusätzlich erschwert und immense Kosten erzeugt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das alles sind bürokratische Placebos, die uns in der derzeitigen Situation einfach nicht weiterhelfen.

In Abwägung der positiven und der negativen Argumente werden wir uns heute bei dem von Ihnen vorgelegten Gesamtpaket enthalten.

Tatsächlich effektive Maßnahmen liegen aber längst auf dem Tisch: Anerkennung und Rechtssicherheit für die Asylsuchenden, die seit Jahren bei uns leben;

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

die überfällige Abschaffung der Vorrangprüfung, die ausgerechnet von der SPD verhindert wurde, Frau Högl – herzlichen Glückwunsch! –;

unbürokratische Anerkennung derjenigen aus Staaten mit hohen Anerkennungsraten; entschlossene Maßnahmen für Integration, vor allen Dingen eine Bildungsoffensive. All das schlagen wir seit langem und heute erneut vor, und all das ignorieren Sie noch immer. Das ist einfach zu wenig, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Statt Entschlossenheit und Geschlossenheit in der CDU/CSU-Fraktion Meuterei auf der Bounty. Aus Kreisen ausgerechnet der Fachpolitiker der Union wurde offen mit – ich zitiere – „Regierungsabwahl“ gedroht. Regierungsabwahl! Man muss es sich einmal vorstellen! Diese Drohung soll offensichtlich von Ihren eigenen massiven Versäumnissen ablenken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

CSU und CDU tragen seit zehn Jahren die Verantwortung für die Innen- und auch für die Flüchtlingspolitik in diesem Land. Um dies zu kaschieren und um ein dringend erforderliches Einwanderungsgesetz zu verhindern, riskieren Sie lieber das politische Ende Ihrer eigenen Bundeskanzlerin. Das ist ein Skandal, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ein Kalauer! Kein Skandal!)

Früher hieß konservativ sein: auch Verantwortung übernehmen in schwierigen Zeiten. – Heute haben wir einen Innenminister, der ohne irgendeine Faktenbasis über taxifahrende Flüchtlinge schwadroniert, um allen Ernstes den Eindruck zu erwecken, Herr de Maizière, er habe mit der katastrophal schlechten Ausstattung des BAMF, mit der unakzeptabel langen Verfahrensdauer und mit dem ganzen Chaos der letzten Monate nichts zu tun. Das ist absurd. Das ist peinlich, Herr de Maizière. Man kann nur hoffen, dass der Chef des Bundeskanzleramts es besser und sachbezogener angeht als Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Und Horst Seehofer? Der macht seit Wochen die unsozialen, unchristlichen, antieuropäischen Positionen der „neuen Rechten“ hoffähig. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen noch leidtun, meine Damen und Herren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das glaube ich nicht!)

Nun will er – Herr Seehofer – die eigene Bundesregierung verklagen – vor dem Bundesverfassungsgericht. Das ist nur noch grotesk, meine Damen und Herren. Unfassbar!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ich möchte der Bundeskanzlerin an dieser Stelle sagen: Ich habe, auch im Sinne meiner Partei und Fraktion, vieler Leute dort, durchaus Respekt für Ihre bisherige Haltung in der Flüchtlingsfrage. Aber wer solche Koalitionspartner hat, der muss sich fragen, ob er für die größte Herausforderung unserer Geschichte seit der Wiedervereinigung tatsächlich gewappnet ist.

(Rüdiger Veit [SPD]: Wir sind auch noch da! – Gegenruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal rechts und mal links!)

Wenn 24 Stunden nach der Regierungsabwahldrohung von Herrn Uhl die irrsinnige Forderung, die Türkei ernsthaft zu einem sicheren Herkunftsstaat zu machen, übernommen wird, dann erweckt das schlicht den Eindruck der Erpressbarkeit, Herr Kauder.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn man etwas freiwillig macht, ist man nicht erpresst!)

Wenn die Autorität erodiert wie am Dienstag in der Sitzung Ihrer Bundestagsfraktion, wenn in der Partei Putsch in der Luft liegt wie gestern Abend offenbar in Schkeuditz,

(Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Sie waren doch gar nicht dabei!)

dann fehlt das Vertrauen, das Sie dringend brauchen. Ich sage Ihnen: Sie müssen das in Ihren Reihen klären; denn wir brauchen eine Haltung – eine Haltung! –: die Bundesregierung, dieses Parlament und das ganze Land.

(Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Sie enthalten sich doch heute! Das ist Ihre Haltung!)

Wir brauchen Geschlossenheit und Mut. Wir brauchen ein klares Ja zur Einwanderungsgesellschaft und zur Integration. Wir können das schaffen. Wir können das schaffen, aber nur, wenn alle, die es schaffen wollen, an einem Strang ziehen.

Ganz herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)