Am 7. und 8. März 2018 veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung eine sehr interessante Konferenz mit dem Titel „Big Data und informationelle Selbstbestimmung – Eine Herausforderung für die politische Bildung“ in Bonn. Im Vorfeld der Konferenz, die im Rahmen der neuen Veranstaltungsreihe „Bonner Gespräche zur politischen Bildung“ stattfindet, hat die Bundeszentrale eine Informationsseite eingerichtet.

Im Vorfeld der Tagung wurden die Referenten gebeten, Thesenpapiere zum Themenkomplex Big Data & Co. einzureichen. An dieser Stelle dokumentieren wir meinen gemeinsam mit Malte Spitz verfassten Text, den wir als Beitrag eingereicht haben. Selbstbestimmung in Zeiten des digitalen Umbruchs“

Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung verändern derzeit alles. Die von ihr ausgelösten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche sind disruptiv. Sie werden uns absehbar auch die kommenden Jahrzehnte begleiten. Wie wir kommunizieren und uns informieren, wie wir arbeiten, lernen, leben, lieben, reisen, heilen – alles ändert sich.

Die digitalen Datenmengen, die wir produzieren, verdoppeln sich in immer schnelleren Intervallen. Und mit ihnen steigen die Begehrlichkeiten, an diese Datenberge heranzukommen, sie zu vermarkten, sie zu rastern und zu höchst aussagekräftigen Profilen zu verknüpfen. Internet und Digitalisierung bieten ungeahnte Möglichkeiten – leider nicht nur für die Nutzerinnen und Nutzer, sondern auch für diejenigen, die Daten als Rohstoff des neuen 21. Jahrhunderts begreifen und das Internet nutzen, um langgehegte Überwachungsphantasien endlich Realität werden zu lassen.

In der digitalen Gesellschaft können wir buchstäblich jedes Verhalten an jedem Ort über digitale und vernetzte Sensorik aufzeichnen und in eine globale Analyse des Menschen, seiner Beziehungen, Bewegungen und Vorlieben einfließen lassen.

Hier seien nur einige Beispiele genannt:

  • Mobiltelefone und damit unsere kompletten Kommunikations- und Bewegungsdaten
  • Gesundheitsarmbänder und damit der Zugriff auf unsere Bewegungs-, Gesundheits- und Verhaltensdaten
  • „Das Internet der Dinge“, Smart Grid oder Autonomes Fahren und damit die Vernetzung und Fernsteuerung unseres unmittelbaren Lebensraums, ganzer Städte und kritischer Infrastrukturen wie der Energieversorgung.

Über komplexe, bald schon sich selbst optimierende Algorithmen wird dann beispielsweise errechenbar, wie sehr der oder die Einzelne von einem errechneten Mittelwert des statistisch erwartbaren Verhaltens abweicht – und wie er oder sie sich in bestimmten Situationen aller Voraussicht nach verhalten wird. Was nach Schwarzmalerei klingt findet heute längst Anwendung, beispielsweise im Zuge von “Big Data”-Auswertungen und „Scoring-Verfahren“ von Wirtschaftsauskunfteien.

Die Verdatung unseres Alltagslebens ist die Grundlage für Big Data. Es geht nicht um den einen einzelnen Datensatz, den einen Anruf, die eine Flugbuchung oder den einen Einkauf. Es geht um die Zusammenführung und systematische Analyse aller vorhandenen Daten. Daten aus Wettersensoren, aus Kommunikationsnetzen aber auch aus den Apps auf unserem Smartphone, Bewertungen unseres Online-Einkaufsverhaltens oder den Bewegungen unserer Computermaus. Aktuell befinden sich diese Daten noch verteilt, in ganz unterschiedlichen Datenbanken rund um den Globus. Sie werden aber immer öfter von Unternehmen zusammengeführt und staatliche Stellen wie Sicherheitsbehörden und Geheimdienste verschaffen sich auf legalem oder illegalen Weg Zugriff auf sie. Schon heute besitzt jeder einen riesigen Datenschatten, den er oder sie mit sich herumträgt.

Für Big Data ist jeder Datensatz relevant, weil man sich Antworten auf Fragen erhofft, die man selber noch gar nicht kennt. Es geht um die verborgenen Muster, neue Hinweise und Erkenntnisse. Es ist die algorithmengetriebene Suche in einem großen Heuhaufen, ohne immer genau zu wissen, was, wen oder wieso man eigentlich sucht. In einer vollends digitalisierten Gesellschaft soll menschliches Verhalten – z.B. im Bereich der Arbeitswelt und des Konsums – zu annähernd hundert Prozent berechenbar werden.

Somit werden Daten zum vielbeschworenen „Öl des 21. Jahrhunderts“, mithin ein immenser Entwicklungsfaktor und Milliardenmarkt, zugleich aber – um im Bilde des fossilen Brennstoffs und dessen Klimafolgen zu bleiben – mit unüberschaubaren Nebenwirkungen für den Menschen und die Welt, wie wir sie heute kennen. Statt auf immer neue Fördermöglichkeiten zu setzen, wären all denjenigen, denen an dem Erhalt und der Verteidigung von Rechtsstaaten konstituierenden Grund- und Freiheitsrechten gelegen ist, gut beraten, sich intensiv Gedanken darüber zu machen, wie ein effektiver Umweltschutz im Digitalen aussehen müsste. Wir tun das.

Ein Greenpeace für´s Digtale gibt es noch nicht. Wenn Daten das Rohöl des 21. Jahrhunderts sind, muss jedoch der Datenschutz die Rolle einnehmen, die der Umweltschutz in unserer heutigen Welt hat. Grundlegende Fragen sind zu klären: Was ist die magische 2-Grad Marke auf dieses Beispiel übertragen? Was der „Point of no return“, an dem wir Rechtsstaatlichkeit endgültig verlieren und unser Leben, durch und durch, von höchst intransparenten Algorithmen allmächtig daherkommender Firmen bestimmt wird, die sich schon heute kaum an nationale Gesetze gebunden fühlen? Was sind die Erneuerbaren? Vielleicht durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen und tatsächliche effektive Mechanismen zu Anonymisierung von Daten und Informationen?

Deutlich wird: Unsere Gesellschaft und die Politik stehen vor enormen Herausforderungen. Es geht dabei um grundsätzliche rechtliche, ethische und soziale Fragen unseres zukünftigen Zusammenlebens in der durchdigitalisierten Welt. Wie kann die informationelle Selbstbestimmung effektiv gewährleistet werden, wenn man gar nicht mehr erfassen kann, was über uns nach welchen Kriterien und Algorithmen erhoben wird? Welche Aufgaben und Entscheidungen wollen wir Künstlicher Intelligenz überlassen und wer haftet dann für diese? Wie können wir einer Hyperindividualisierung entgegentreten, die Errungenschaften von 150 Jahren Sozialstaat und kollektiver Schutzsysteme wie der Krankenversicherung in wenigen Jahren über Bord wirft und uns alle in ein digitales Kastensystem einordnet?

Als GRÜNE haben wir hier eine klare Linie. Wir wollen jeden Einzelnen und seine Grund- und Menschenrechte schützen und stärken. Die informationelle Selbstbestimmung ist kein Relikt des vergangenen Jahrtausends, sondern essentiell zur Wahrung unserer Freiheit in der Zukunft. Statt sie in Frage zu stellen, müssen wir sie ausbauen. Insgesamt müssen wir die disruptiven Umwälzungen unserer Gesellschaften aktiv politisch begleiten. Statt den Hals angesichts zweifellos großer Herausforderungen in den Sand zu stecken müssen wir als Gesellschaft und Gesetzgeber diese Mammutaufgabe entschlossen angehen. Wir müssen den digitalen Wandel unserer Gesellschaft und unsere digitale Zukunft aktiv gestalten. Denn tun wir es nicht, tun es andere – oftmals zu unseren Lasten.

Wir wollen nicht den technologischen Fortschritt und Entwicklungen wie Big Data stoppen, sondern sie in einen rechtlichen, ethischen und im Sinne des Gemeinwohl handelnden Rahmen überführen. Angesichts der Internationalität des Internets muss dies mindestens europäisch erfolgen, falls dies international nicht möglich ist. Als eine der größten Industrienationen der Welt, die zugleich ein enormes Know-How im Bereich des Datenschutzes und der IT-Sicherheit vorweisen kann, können wir hier eine tatsächliche Führungsrolle einnehmen. Doch dafür müssen wir gestalten wollen. Der Wille hierzu fehlt bei der Bundesregierung bislang. Bestenfalls verwaltet sie – überlässt es aber insgesamt viel zu oft, selbst digitalpolitische Akzente zu setzen. Stattdessen ergeht sie sich in digitalpolitischen Kompetenzgerangel und überlässt grundlegende Entscheidungen dem Spiel der freien Märkte. Doch mit Selbstverpflichtungen ist es gewiss nicht getan.

Marktbeherrschende Akteure wollen wir wieder einfangen und sie an ihre gesellschaftliche Verantwortung und die Notwendigkeit, sich auch als multinationale Unternehmen an klare gesetzliche Vorgaben zu halten, erinnern – dort wo nötig auch gesetzgeberisch. Die Zeit, in der die großen Player in bester Wildwest-Manier auf geltende nationalstaatliche Regelungen wenig Acht gaben und vom Gesetzgeber wenig zu befürchten hatten, müssen vorbei sein – das hat zuletzt auch der Europäische Gerichtshof mit wegweisenden Urteilen noch einmal deutlich gemacht. Deutlich wurde auch: Der Gesetzgeber bleibt in der Pflicht.

Gleichzeitig muss er mit gutem Beispiel vorangehen. Es ist bigott, mit dem Finger auf datensammelnde US-Unternehmen zu zeigen, gleichzeitig aber die Befugnisse der völlig enthemmt überwachende Geheimdienste auch zweieinhalb Jahre nach den ersten Enthüllungen Edward Snowdens nicht einzuhegen, die parlamentarische Kontrolle zu verbessern und sich endlich vom System der Massenüberwachung zu verabschieden. Wie kann man glaubhaft die NSA-Überwachung kritisieren, wenn man gleichzeitig die Vorratsdatenspeicherung, also die anlasslose, massenhafte Überwachung des Kommunikationsverhaltens der eigenen Bevölkerung erneut auf den Weg bringt?

Insgesamt müssen wir endlich verstehen, welche Bedeutung dem Grundrechtsschutz der Menschen im Digitalen zukommt. Wir müssen verstehen, dass die Errungenschaften, die uns Internet und Digitalisierung bringen, nur genutzt werden, wenn die Menschen der eingesetzten Technik auch tatsächlich vertrauen können. Hier liegt noch ein weiter Weg vor uns. Ihn zu gehen ist für Rechtsstaaten jedoch alternativlos. So brauchen wir grundlegende, im demokratischen Diskurs ausgehandelte Entscheidungen, welche Bereiche der Privatsphäre auch im Digitalen unbedingt geschützt werden müssen. Legen wir nicht fest, ob und unter welchen Voraussetzungen der Staat durch Trojaner und systematisch verbaute Hintertüren auf unsere Computer und Smartphones zugreifen kann, unterscheidet uns bald wenig von den Mächtigen dieser Welt, deren größtes Anliegen es ist, Kontrolle über alles und jeden zu erlangen. Das gilt es mit allen Mitteln zu verhindern!

Grüne Positionen zu den Themen Big Data, Datenschutz und der notwendigen Gestaltung des digitalen Wandels findet Ihr auf unserem gemeinsamen innen- und netzpolitischen Blog. Hier findet Ihr den netzpolitischen Grundsatzbeschluss der Kieler BDK von 2011.