Der Vizefraktionschef der Grünen im Bundestag, Konstantin von Notz, über die Gewalt in Stuttgart, die skandalösen Verhältnisse in der Fleischindustrie und die Gefahr einer zweiten Conrona-Infektionswelle in Deutschland

Stehen wir in Deutschland vor einer zweiten Infektionswelle, oder lassen sich die neuen Ausbrüche des Virus in zwei Kreisen in Nordrhein-Westfalen regional begrenzen?

Konstantin von Notz: Wir stehen an einer Weggabelung. Ob wir eine zweite Welle verhindern, hängt davon ab, dass wir entschlossen und konsequent, aber auch verhältnismäßig reagieren.

Tragen neben den skandalösen Geschäftspraktiken des Fleisch-Großfabrikanten Tönnies auch die Behörden in NRW Verantwortung, weil sie nicht schnell genug reagiert haben?

Von Notz: Aus der Ferne lässt sich das schwer beantworten. Von meinen Parteifreunden aus NRW höre ich durchaus kritische Fragen. Das muss man sich nun sehr genau anschauen.

Schon in der ersten Phase gab es Kritik, dass es zu lange dauert, bis Infektionsfälle bei den zuständigen Behörden ankommen und diese reagieren. Weshalb hat sich das nicht geändert?

Von Notz: Wir müssen zweifellos schneller werden. Daher ist es gut, dass es die App gibt. Sie sollte möglichst breit genutzt werden. Ich hätte mir vor sechs Monaten nicht vorstellen können, dass ich ein solches Instrument bewerbe. Aber in dieser herausfordernden Situation der Pandemie ist die App mit ihren hohen Datenschutz- und IT-Sicherheitsstandards, die wir hineinverhandelt haben, ein Mittel, um die Meldewege zu beschleunigen und von dem mühsamen Analog Verfahren wegzukommen. Das wird nicht für alle Fälle wirken, weil es nie eine hundertprozentige Abdeckung geben wird. Aber es ist ein Baustein, der hilft, die Menschen schnell zu informieren. Durch die Ereignisse in NRW wird die Notwendigkeit der App hoffentlich für viele erkennbar.

War es voreilig, dass NRW-Ministerpräsident Laschet so sehr auf Lockerungen gedrängt hat?

Von Notz: Mir hat der Überbietungswettbewerb der Ministerpräsidenten nicht gefallen. Ich fand es problematisch, dass einige über die Medien sich kurzfristigen Beifall verschaffen wollten. Diese Pandemie ist kein Sprint, eher ein Marathon. Sie wird uns noch lange beschäftigen. Deshalb war es falsch, dass sich Herr Laschet als großer Lockerer verkauft hat. Das fällt ihm jetzt massiv auf die Füße. Die Sache mit Tönnies wird an ihm hängenbleiben.

Sein Argument, dass man Menschen gerade jetzt im Sommer nicht über Monate einsperren kann, war aber wohl auch nicht von der Hand zu weisen.

Von Notz: Die Beschränkungen in Deutschland waren im Vergleich zu anderen Ländern moderat. Das hat gut funktioniert. Mit einer hohen Eigenverantwortung der Menschen und großer gesellschaftlicher Solidarität. Diesen Spirit müssen wir uns bewahren.

Viele haben offenbar das Gefühl, wir sind in Deutschland relativ glimpflich davon gekommen. Verleitet das zu Leichtsinnigkeit?

Von Notz: Der Zuspruch, wie wir mit der Krise umgegangen sind, ist nach wie vor sehr hoch. Natürlich gibt es Leute, die sich massiv beschweren, auch auf sogenannten „Hygiene-Demos“. Aber wenn man sich die Umfragen anschaut, entspricht das nicht dem allgemeinen Stimmungsbild. Mein Eindruck durch persönliche Begegnungen ist, dass die Leute sagen: Bis hierhin ist es gut gelaufen. Aber es ist völlig klar, sich auf längere Sicht einzuschränken, keine größeren Versammlungen besuchen zu dürfen, verlangt uns allen viel ab. Das muss die Politik mit der notwendigen Ernsthaftigkeit rüberbringen, ohne repressiv zu werden. Das ist die rechtsstaatliche Herausforderung in einer Pandemie. Das ist anders als in China, wo man Leute von Drohnen kontrolliert nach Hause schickt oder notfalls in großer Zahl inhaftiert. Bei uns geht es um Eigenverantwortung und Solidarität.

Für Sie als Grünen muss das Infektionsgeschehen auch in anderen Fleischfabriken besonders schmerzhaft sein. Denn Ihre Partei kämpft seit langen gegen die unhaltbaren Zustände für die Tiere und Mitarbeiter dort, meist aus osteuropäischen Ländern, die wie Sklavenarbeiter gehalten werden. Weshalb ist es nicht gelungen, dagegen schon früher vorzugehen?

Von Notz: Weil es eine ungeheure Lobby gibt. Die Fleischindustrie ist politisch extrem gut verzahnt. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner verfolgt deren Agenda statt die Agrarwende einzuleiten, obwohl jeder die untragbaren Zustände seit Jahren kennt. Auch welche unverantwortlichen Folgen das für das Klima und die Umwelt hat. Ich hoffe, dass der Fall Tönnies eine Zäsur darstellt. Mit der Verweigerungshaltung der Union geht es jedenfalls nicht weiter.

Die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten hat vorgerechnet, dass Fleisch nur 9 Cent pro Kilo teurer würde, wenn das Fleisch zu menschen- und tierverträglichen Bedingungen hergestellt wird.

Von Notz: In der Branche herrscht ein ungeheurer globaler Preiswettbewerb, der mit  Medikamentenmissbrauch und Antibiotikaeinsatz im großem Still einhergeht. Wenn wir Schweinehälften für China produzieren, dann geht es um jeden Cent. Daran sieht man, wie verkehrt schon der Grundansatz ist. Unsere Felder sind mit Nitrat verseucht, das Grundwasser ebenso – das alles in einem menschen-, tier- und umweltschädigenden Konkurrenzdruck. Frau Klöckner muss jetzt Farbe bekennen. Wir müssen aus dieser Fleischkapitalismus, aus diesen industriellen Logiken aussteigen. Auch zum Schutz der heimischen bäuerlichen Landwirtschaft.

Sind sie für Exportverbote?

Von Notz: Ich bin für verbindliche Standards, wie Tiere gehalten und geschlachtet werden dürfen. Das wird sich auch auf den Preis auswirken. Dann dürfte es schwieriger werden, Schweinehälften nach China zu verkaufen. Die jetzigen Marktverhältnisse, mit hohen Subventionen, führen zu den Wahnsinnsverhältnissen, die wir jetzt in der Pandemie wie unter dem Brennglas sehen.

In Stuttgart hat es erschreckende Verwüstungen und massive Angriffe auf Polizisten gegeben. Was hat nach Ihrer Einschätzung die jugendlichen Gewalttäter dazu getrieben?

Von Notz: Solche Szenen hat es durchaus auch schon früher gegeben, Hooligan-Ausschreitungen bei Fußballspielen, rituelle Straßenschlachten in Berlin und in Hamburg. Auch Stuttgart war in der Vergangenheit davon betroffen. Aber klar ist, die Angriffe auf Geschäfte und brutale Attacken auf Polizisten kamen überraschend. Sie sind völlig indiskutabel. Dagegen muss sich eine wehrhafte Demokratie deutlich aufstellen.

Unter den Gewalttätern war eine erhebliche Zahl migrantischer Jugendlicher. Unter ihnen breitet sich offenbar schon länger eine Stimmung aus, die sich in Hass auf den Staat und die Polizei äußert. Was läuft das falsch?

Von Notz: Es war wohl eine sehr heterogene Zusammensetzung. Neben Jugendlichen mit Migrationshintergrund waren viele Deutsche dabei. Letztlich ein Abbild von jungen Menschen, die an einem solchen Abend in einer Innenstadt unterwegs sind. Man muss das genau analysieren mit Blick auf die Aggressionen und die Gewalt, die wir derzeit an ganz vielen Stellen erleben.

Was meinen Sie damit?

Von Notz: Staatliche Institutionen, der Rechtsstaat und auch die Polizei werden sehr bewusst verächtlich gemacht, auch aus dem äußerst rechten Spektrum. Deshalb müssen wie vollkommen klar ziehen, dass die Beamtinnen und Beamten, die an einem Wochenende in einer Innerstand die Ordnung aufrechterhalten, auch unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat verteidigen. Wenn die in dieser Form angegriffen werden, kann sich das unsere Demokratie  nicht gefallen lassen.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken hat die deutsche Polizei nach dem Polizeimord in den USA an dem Afroafrikaner pauschal unter Rassismus-Verdacht gestellt, ebenso eine Autorin in der taz. Trägt so etwas dazu bei, Stimmung gegen die Polizeibeamten zu schüren?

Von Notz: Ich fand die Aussage von Frau Esken unglücklich. Der Generalverdacht gegen eine Menschengruppe verbietet sich in einem Rechtsstaat. Die Polizei ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. In der gibt es Rassismus. Die Polizei übt das Gewaltmonopol aus. Deshalb ist es wichtig, dass es da so wenig Vorfälle gibt wie es geht und diese geahndet werden. Aber das in einen Pauschalvorwurf zu münzen, ist nicht richtig. Den Text in der taz kann ich mir nicht erklären. Menschen in Zusammenhang mit Müllkippen zu bringen, nach der ganzen Diskussion, nach Gaulands Aussagen zur Entsorgung einer SPD-Migrationspolitikerin, ist einfach abwegig.

Linke, auch Grüne und ein Teil der taz-Redaktion haben den Text mit Verweis auf die Meinungs- und Pressefreiheit verteidigt.

Von Notz: Das kann man auch nicht nachträglich mit Satire rechtfertigen. Das führt zu einer Vertiefung der Gräben. Die können wir überhaupt nicht gebrauchen. Wir brauchen ein gemeinsames Wir für die freiheitlich-demokratische Grundordnung und für den Rechtsstaat. Dafür brauchen wir die Polizistinnen und Polizisten. Denn sie sichern unsere Freiheit, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Dessen Verächtlichmachen von links und rechts ist schwer erträglich. Wenn wir uns umgucken in der Welt, haben wir mit unseren Grundrechten und unserem Rechtsstaat etwas extrem Wertvolles. Wir müssen uns sehr klar aufstellen gegen diejenigen, die das schlechtreden und autokratisch aufbohren wollen.

Interview: Ludwig Greven